Treffen sich ein Rabbi und ein Imam, die ihre Religionen in Europa als gefährdet erachten, zum Doppelinterview mit dem KURIER.
von Michael Hammerl
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Das Muslim Jewish Leadershipt Council ist 2016 in Wien gegründet worden. Es agiert in Kooperation mit dem König-Abdullah-Zentrum (KAICIID) und will den Dialog zwischen Juden und Muslimen stärken. Der KURIER hat zwei der sechs führenden Mitglieder zum Interview getroffen: Den Schweizer Rabbiner Pinchas Goldschmidt, Präsident der Europäischen Rabbiner Konferenz (CER) und den Mailänder Imam Yahya Sergie Yahe Pallavicini, Berater des italienischen Innenministers.
KURIER: Was genau wollen Sie mit dem Muslim Jewish Leadership Council (MJLC) erreichen oder verändern?
Pallavicini: Wir wollen, dass die europäische Gesellschaft besser über diese zwei, spezifischen Religionen Bescheid weiß. Sie sind oft das Opfer von Ignoranz, aber auch von Manipulation, Diskriminierung, Gewalt und Hass. Nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Politik und Justiz.
Was meinen Sie konkret, wenn Sie von “Ignoranz” sprechen? P: Ich befürchte, dass die Wahrnehmung und Lehre eines religiösen Blickes auf das Leben in der Gesellschaft vernachlässigt werden. Es gibt keine Kenntnis mehr, was eine religiöse Identität, was religiöses Verhalten ist. Und es gibt einen Prozess der Assimilation. Für alle Religionen sollen dieselben Standards gelten – was einfach völlig falsch ist.
Goldschmidt: Ich will es etwas einfacher formulieren. Die Situation ist für die jüdische Gemeinschaft sehr kompliziert. Wir wurden in den vergangenen 15 bis 20 Jahren attackiert, waren oft Zielscheibe des radikalislamischen Terrors. Die Beziehung zwischen Muslimen und Juden in Europa wurde zunehmend schlechter, es gab nur sehr wenig Kooperation und Dialog. Ein Resultat des Terrors im Nahen Osten war die Einwanderung von Muslimen nach Europa. Wie hat das post-christlich-jüdische Zentraleuropa, des säkular geworden ist, geantwortet? Es hat nicht die Radikalen verfolgt, sondern den Islam als Religion von Millionen von Menschen, die in Europa leben. Als Restriktionen gegen islamische Praxen aufkamen – wie Halāl und die Beschneidung – waren wir Juden der Kollateralschaden. Die Gesetze betrafen auch uns. Deshalb haben wir vor vier Jahren begonnen, zu kooperieren: Wir sitzen im selben Boot.
Also sind Sie jetzt in dieser kleinen Gruppe in „Dialog“ getreten. Bringt so etwas Ergebnisse?
G: Lassen Sie mich kurz eine persönliche Geschichte erzählen. Sie soll zeigen, wie sich dieser Dialog auswirken kann. Vor ein paar Wochen war ich in Berlin. Ich traf mich mit dem Generalsekretär der Islamischen Weltliga, Scheich Muhammad bin Abdul Karim Al Issa, der zuletzt Auschwitz, Halle und andere Orte besuchte. Wir unterhielten uns einen ganzen Abend lang im Berliner Adlon Hotel. Am nächsten Tag ging ich durch die Stadt, mit der Kippa am Kopf. Es war dunkel. Drei junge Arabar stoppten mich auf der Straße. Sie fragten: „Sind Sie Jude?“ Ich sagte: „Ja“, und fragte: „Sind Sie Muslime?“ „Ja.“ Ich verstand sofort, dass sie auf mich losgehen wollten, auf einen älteren Juden, alleine auf der Straße. Ich sagte ihnen, dass ich ihnen was zeigen möchte. Ich nahm mein Smartphone heraus und zeigte ihnen ein Foto mit Scheich Al Issa, mit dem ich am Vorabend noch über die Beziehung zwischen Muslimen und Juden gesprochen hatte. Wir begannen zu diskutieren. Sie fragten mich, ob ich glaube, dass eines Tage Friede zwischen Palästinensern und Israelis herrschen werde. Ich sagte: „Ja. Vielleicht nicht mehr in meinem Leben, doch in eurem sicherlich.“ Dann machte ich ein Selfie mit ihnen. In diesem Fall hat also ein Treffen auf höchster Ebene den Dialog an der Basis beeinflusst. Ich denke, dass ist der Versuch des MJLC.
P: Und das alles begann vor vier Jahren. Wir arbeiten im europäischen Kontext. Das MJLC könnte ein Beispiel für die ganze Welt sein: Wir zeigen, dass zwei religiöse Minderheiten in Europa, die so oft bewusst missinterpretiert werden, tatsächlich gemeinsam als Brüder ihre Rechte verteidigen.
Sie sprechen jetzt von interreligiösem Dialog. Aber wie wollen Sie realpolitisch etwas bewirken?
P: Ich war Berater des früheren Präsidenten Frankreichs, Nicolas Sarkozy. Er wollte religiöse Symbole im öffentlichen Raum verbieten lassen, 2010 unterzeichnete er als Präsident das Verschleierungsverbot. Ich war dagegen. Ich denke, wir sollten alle pseudo-politischen Narrative verhindern, die versuchen, die Würde und Freiheit eines religiösen Bürgers einzuschränken. Wir sollten fokussierte, intelligente Wege finden, um die Manipulation von Symbolen zu verhindern. Für Verwirrung sorgt, dass die Freiheit der Religion von ultra-säkularen, antireligiösen Personen ausverhandelt wird. Die kulturellen, juristischen und politischen Wurzeln Europas sollten aber mit dem Wert der Religionsfreiheit übereinstimmen. Und natürlich: In diesem religiösen Pluralismus ist kein Platz für irgendeine Form von ultraradikalen und aggressiven Interpretationen.
Es gibt diese Argumentation, dass Zentraleuropa auf jüdisch-christlichen Fundamenten aufgebaut ist und der Islam nicht Teil der europäischen Kultur ist. Was sagen Sie dazu?
G: Europas Wurzeln sind jüdisch-christlich. Aber es gibt fast keine Juden mehr in Europa, weil die Europäer sechs Millionen Juden getötet haben. Wenn die Europäer sagen, dass sie keinen Islam und keine Muslime um sich haben wollen, hätten sich nicht 40 Millionen Muslime nach Europa lassen sollen. Ja, vor 500 Jahren hättet ihr sie noch gewaltsam zu Christen konvertiert. Aber heute ist das anders. Die Grundwerte haben sich nach 1945 geändert, nachdem ein Sturm des Rassismus fast die gesamte zivilisierte Welt zerstörte. Die Europäer haben beschlossen, eine pluralistische Gesellschaft der Nationen, der unterschiedlichen Religionen, der Menschenrechte und Redefreiheit zu gestalten. Also: Warum wird die Religionsfreiheit jetzt zurückgedrängt? Sie gehört zu den fundamentalen Freiheiten.
Was ist Ihre Erklärung?
G: Wir sehen diese sehr populistische und simple Antwort auf Europas Angst vor Immigranten. Der Populismus, den wir erleben, geht stark in die Richtung einer Wiederbelebung des Rassismus und des Terrorismus. In Halle wollte am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, ein Neonazi eine Synagoge stürmen und 78 Menschen töten. Er schaffte es nicht, die Tür aufzuschießen. Was machte er stattdessen? Er tötete ein paar Muslime. Passiert das, weil wir vergessen haben, was vor 75 Jahren in Europa passiert ist? Vergessen wir, was Rassismus in Europa angerichtet hat?
Antisemitismus ist allerdings auch in der islamischen Welt ein großes Problem – möglicherweise ein noch größeres als in Zentraleuropa.
G: Ich meine, dass das generelle Problem im Nahen Osten der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist. Viele andere Probleme sind ein Resultat dessen. Aber in den vergangenen Jahren hat sich das gegenseitige Verständnis verbessert. Der Besuch von Al Issa in Auschwitz hat das gezeigt. Wir verstehen: Es gibt einen territorialen Konflikt in Israel. Wir wissen, dass Rassismus, dass der Holocaust Dinge sind, die universal sind und nicht nur als Teil des jüdischen Narratives wahrgenommen werden sollen.